Wie viel Erde braucht der Mensch?

Die Parabel von Tolstois „Wie viel Erde braucht der Mensch?“ aus dem Jahr 1885, in der Bauer Pachom an seiner Besessenheit nach mehr Landbesitz schließlich zugrunde geht, scheint relevanter denn je, wie die unmäßige Flächeninanspruchnahme, Bodenversiegelung und Zersiedelung in Österreich zeigen.

Caroline Rodlauer - Architektin, Ziviltechnikerin Bau- und Ortsbild-Sachverständige

holzbau austria Magazin 6/2024
Foto: © Christoph Huber

Mit Raum und Boden als gemeinschaftlicher, jedoch nicht erneuerbarer und daher begrenzter Ressource wird hierzulande und auch im europäischen Vergleich auffallend sorglos umgegangen. Die Lage ist topografisch bedingt besonders sensibel, denn nur 37 % der Landesoberfläche Österreichs sind als Dauersiedlungsraum geeignet. Und davon ist ein Fünftel bereits verbaut. Der tägliche Verlust an Ackerfläche zugunsten von Siedlungen, Straßen, Shoppingcentern, Parkplätzen und Gewerbeflächen beläuft sich auf rund 11,5 ha. Österreich läuft hinsichtlich Verbauungsgrad, Straßennetz und Einkaufsfläche pro Person etwa Deutschland und der Schweiz doppelt den Rang ab!

Doch was treibt den Bodenverbrauch an? Unser aller Lebensstil verbraucht zu viel Fläche und es gibt hierzulande kaum aktive Bodenpolitik. Dank steigendem Wohlstand beträgt die durchschnittliche Wohnfläche heute das Doppelte als noch 1970, der Trend zum Einfamilienwohnhaus und zu Single-Haushalten ist ungebrochen, die Flucht in die Sachwerte oder gar zum strategischen Leerstand steigt, Gemeinden stehen in infrastruktureller Standortkonkurrenz zueinander. Zugleich ist ein Rückzug des Nutzungsinteresses der Landwirtschaft zu verzeichnen, den der Umstand, dass Bauland um ein Vielfaches lukrativer als Ackerland ist, noch befeuert.

Die Spätfolgen sind vielschichtig, denn „sind die Äcker und Wiesen fort, fehlt das Essen uns vorort“. Jeder Mensch braucht ein Stück Erde, und 95 % unserer Nahrung kommt vom Boden.

Durch Hoch- und Tiefbau beanspruchen wir derzeit jährlich 4200 ha Agrarfläche, das entspricht der Menge an Boden, die für die Produktion von 25,2 Mio kg Brotgetreide pro Jahr benötigt werden – und damit dem jährlichen Bedarf von knapp 300.000 Österreicherinnen.

Maßloses Zersiedeln der Landschaft und überbordende Bebauung führen neben der Zerstörung von ökologischen und klimatechnischen Funktionen der Böden weiters zum zunehmenden Aussterben der Ortskerne sowie zu Beeinträchtigungen des Orts- und Landschaftsbildes – unserem wichtigsten Kapital, der stärksten Tourismusressource und „Visitenkarte“ unserer Regionen.

Ein neues Wirtschafts- und Wertedenken ist angesagt, denn das Naturkapital Boden muss in jeder volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung berücksichtigt werden und Allgemeinwohl vor Einzelinteressen stehen. Zugleich stehen Schätzungen zufolge 40.000 ha (!) Gebäudeflächen (das entspricht der Gesamtfläche Wiens) in Österreich leer und ein Viertel des bereits gewidmeten Baulands liegt brach. Ist Österreich somit nicht bereits fertig gebaut und gewidmet?

Genau hier liegt ein wesentlicher Lösungsansatz und enormes Potenzial für Planen und Bauen mit Holz: Um-und Zubauten, Aufstockungen und Brachflächenrecycling statt Neubau auf der grünen Wiese. Die Nutzung des Bestandes ist nicht nur ein Beitrag zur aktuellen Ressourcenfrage in Bezug auf Material- und Flächenverbrauch, sondern birgt auch ein enormes architektonisches Potenzial für die Gestaltung und Unverwechselbarkeit unserer Regionen.

Wir alle sind im Spannungsfeld zwischen Bauen und Gestalten, Tourismus, Landschaft und Land- und Forstwirtschaft tätig – tragen als Fachleute jedoch enorme Verantwortung für unser Umfeld, unseren Wirkungskreis und haben mächtig Hebel: Hinsichtlich Bewusstseinsbildung, Vorbildwirkung und Umsetzung. Wir sind in der Holzbaubranche somit nicht nur Teil aktueller Herausforderungen, sondern ebenso Teil der Lösung: Als Akteure mit Wurzeln und Weitblick!

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